Samstag, 17. Oktober 2020

{Rezension} Der Niemand von der Narcissus ~ Joseph Conrad

Der Niemand von der »Narcissus« || Joseph Conrad || mare || Klassiker || HC || 256 Seiten || 1/1

Joseph Conrads dritter Roman erschien in den USA und in Großbritannien mit unterschiedlichen Titeln: In New York veröffentlichte man ihn 1897 als The Children of the Sea; gegenüber seinem Londoner Verlag aber setzte sich Conrad 1898 mit dem damals von ihm bevorzugten Titel durch, und die Geschichte einer dramatischen Überfahrt von Bombay nach London erhielt den Namen, der ihre Rezeption bis heute zum Dilemma macht: The N*** of the »Narcissus«. Der rassistischen Bezeichnung zum Trotz bürgt die Hauptfigur, der hünenhafte Matrose Jimmy Wait, für ihr Gegenteil: das würdevoll Menschliche in jedem Einzelnen, gleich welcher Hautfarbe, Religion und sozialen Stellung. Mit seiner brillanten Neuübersetzung wagt Mirko Bonné den Versuch, dieses literarische Großereignis und Zeugnis der Kameradschaft auf See endlich auch einer heutigen Leserschaft zugänglich zu machen.


Bei maritimer Belletristik ist an Joseph Conrad, gebürtig  Józef Teodor Nałęcz Konrad Korzeniowski, nicht vorbeizukommen - neben Melville einer der Autoren, der selbst zur See fuhr und darüber schrieb. Schon länger wollte ich Die Schattenlinie lesen und habe mich nun entschieden, zunächst zu einem seiner kontroversesten und gerade neu aufgelegten Romane zu greifen.

Warum kontrovers? Im Amerikanischen als The Children of the Sea erschienen, bevorzugte Conrad doch den britischen (und ebenfalls ins Deutsche übersetzten) Titel mit rassistischem N-Wort und verwendete diesen Begriff auch im Roman. Mirko Bonné hat hier eine gelungene und geschickte Neuübersetzung geschaffen - nur in der einen Szene, in der sich der Schwarze Seemann James Wait gegen die rassistische Beschimpfung wehren kann, fällt der Begriff.

In diesem optischen wie redaktionellen neuen Gewand konnte mich die Geschichte mit ihrer brillanten Erzählweise begeistern - Conrads Schreibstil mutet beinahe poetisch an; ist voller ausschweifender und zugleich wunderschön formulierter Beschreibungen der See und des Lebens der Seefahrenden. 

»Die meisten Seeleute entsinnen sich in ihrem Leben nur einer oder zweier solcher Nächte mit einem Sturmwind in Vollendung. Vom gesamten Universum scheint nichts übrig geblieben als Dunkel, Lärm, Raserei – und das Schiff. Und wie der letzte Brocken einer zerschmetterten Schöpfung treibt es dahin, einen verängstigten Rest der frevelhaften Menschheit an Bord, durch die Bedrängnis, das Durcheinander und die Pein eines rächenden Schreckens. […] Draußen stöhnte die Nacht und schluchzte zur Begleitung eines unaufhörlichen lauten Bebens wie von unzähligen, weit weg geschlagenen Trommeln.«


Insbesondere der, sich über 50 Seiten ausstreckende, Sturm war so eindringlich, so ergreifend geschildert, dass ich förmlich in das Buch gesaugt zu werden glaubte. Dank der ausführlichen Kommentierung im Anhang sollten auch nicht-seeaffine Leser*innen den nautischen Ausführungen folgen können; ich denke jedoch, dass das Lesen dann deutlich beschwerlicher wenn nicht sogar freudlos sein könnte. Ich jedoch genoss es natürlich, Leinen und Eigentümlichkeiten des Segelns wiederzuerkennen; das Gefühl auf See zu sein nachvollziehen zu können!

Handlungsverlauf und Thematik des Buches sind für mich zweigeteilt - zum einen der maritime Aspekt im ersten Teil der Geschichte und schließlich die zwischenmenschliche Dynamik, auf der der Fokus in der zweiten Hälfte liegt. Während ich den Seefahrtsschilderungen mit Freude folgte, konnte mich der Konflikt an Bord nicht fesseln. Müsste ich eine inhaltliche Zusammenfassung des Buches schreiben, fiele mir das außerordentlich schwer - geht es doch nur vordergründig um den Sturm und die Pflege des kranken James Wait, sondern vielmehr um die komplexe Dynamik innerhalb der gesamten Besatzung.

»Das Problem des Lebens schien zu umfassend zu sein für die engen Schranken menschlicher Sprache, und so überließen sie es übereinstimmend dem weiten Meer, das es von Beginn an miteingeschlossen hatte in seinen unermesslichen Zugriff, dem Meer, das alles wusste und, wenn es an der Zeit war, einem jeden die unfehlbar in all den Irrtümern verborgene Weisheit enthüllen würde, die in Zweifeln lauernde Gewissheit, das Reich von Sicherheit und Frieden jenseits der Grenzen von Trübsal und Furcht.« 

Die düster-tiefsinnige Art, wie dieses Buch geschrieben und erzählt ist, konnte mich in den Bann schlagen, während zugleich inhaltlich wenig geschah; die handelnden Personen mich nicht emotional erreichten und ich mir nicht einmal sicher bin, verstanden zu haben, was Conrad uns genau sagen möchte. Und doch; gerade die scheinbare Trägheit seiner Geschichte, der Zauber seiner Sätze, die Faszination der See und die Parallelwelt des Segelschiffes - die beiden eigentlichen Handlungsträger - machten das Buch zu einem unvergesslichen Leseerlebnis für mich. 


... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[5/5] Wunderbare Haptik sowohl des Leineneinbandes als auch der Seiten, Lesebändchen, Schuber und maritimes Titelbild - ich bin verliebt in diese Gestaltung! Auch den Titel finde ich grandios angepasst/gewählt; trägt er doch die originale Botschaft ohne den empörenden, beklemmenden, rassistischen Begriff!


VIELEN DANK AN MARE FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR

Kraftvoll geschriebener, eindrucksvoller Blick in die Welt der Seefahrt des 18./19. Jahrhunderts und dabei sowohl optisch, als auch durch Kommentierung und Nachwort, die bei der Kontextualisierung ungemein helfen, hervorragend aufbereitet.

ausdrucksstark ~ träge ~ nautisch

Klassiker und Langsamkeit (der Handlung) - in eurer Leseerfahrung auch häufig verbunden? Interessiert ihr euch für Seefahrt (in Büchern)? Und habt ihr schon Bücher von Melville oder Conrad gelesen?


 Ähnliche Bücher in meiner Schatztruhe:
{mit einem Klick auf die Cover gelangt ihr zu den Rezensionen}
    

2 Kommentare:

  1. Hallo liebe Ronja

    Das klingt doch wundervoll und schön, dass so eine gut angepasste Neuauflage gelungen ist und dich das Buch dann auch noch so fesseln konnte.

    Ich weiss noch nicht (habe noch zu wenig gestöbert), ob du auch en wenig leichtere Romane liest, könnte mir aber gut vorstellen, dass dir die Reihe um "Die sieben Schwestern" von Lucinda Riley sehr gut gefallen könnte. Schau dir die Bücher unbedingt einmal an.

    Alles Liebe
    Livia

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ahoi liebe Livia,

      die sieben Schwestern habe ich schon häufiger gesehen, mir aber nicht mal die Klappentext angesehen xD Werde ich mal machen, danke für die Empfehlung! An sich lese ich eher selten Romane, aber ab und zu sind die ja ganz nett :)

      Liebe Grüße
      Ronja

      Löschen

Lass´ mir doch einen Kommentar da! Ich würde mich über deinen Landgang sehr freuen :)