Montag, 8. Januar 2024

{Rezension} Julia ~ Sandra Newman

Julia || Sandra Newman || eichborn Verlag || Dystopie || HC || 447 Seiten || 1/1

Mit seinem berühmten Roman „1984“ gelang George Orwell eine visionäre Dystopie über eine Welt der totalen Überwachung. Nun wird dieser Klassiker zu ganz neuem Leben erweckt – und aus der Sicht der weiblichen Hauptfigur erzählt. Die gewitzte Maschinistin Julia hat längst ihre ganz eigenen Strategien entwickelt, um in dem unmenschlichen Überwachungssystem zu überleben. Doch dann verliebt sie sich in Winston, und damit gerät alles aus den Fugen. Dieser eigentümliche Mann gibt Julia immer wieder Rätsel auf, und sollte ihre Liebe auffliegen, könnte sie das ihr Leben kosten. Allmählich verliert Julia jeglichen Halt in der ihr vertrauten Welt – und dabei gilt immer: Big Brother is watching you...


1984 habe ich damals in der Schule gelesen und auch wenn es wahrlich kein klassischer Lesegenuss war, bewegte und beeindruckte mich das Buch doch nachhaltig. Nur Julia blieb eine unbefriedigend blasse Figur. Das hat Sandra Newman nun geändert!

Denn Julia schildert die Ereignisse aus Orwells Dystopie aus ihrer Sicht und das gleich Vorweg: Sandra Newman beherrscht ihr Handwerk. Sie kriecht in die Ritzen und Nebengassen von Orwells Roman und macht diese zum neuen Hauptschauplatz, bleibt dabei Ton und Handlung treu und schafft dennoch etwas Neues. Ihre Schilderungen aus Julias Perspektive und Orwells Geschichte von Winston könnten im selben Buch alternierend abgedruckt werden, so sehr bereichern sie sich gegenseitig. 

»Das ist ja das Schreckliche. Man hat keine Wahl, und doch muss man da durch, als hätte man eine gehabt.«


Ich gebe zu, dass ich von Anfang an Schwierigkeiten mit dem Buch hatte - meiner hohen Erwartungen an eine feministische Neuerzählung wegen und auch bezüglich des Schreibstils. An letzterem störte mich vor allem die vulgäre Sprache und auch wenn ich nachvollziehen kann, dass Julia in einer Welt, die Liebe abgeschafft zu haben glaubt und Sexualität unterdrückt, das Vokabular fehlt, störte mich die Derbheit der Worte und Gedanken dennoch. Was den feministischen Blickwinkel angeht - er war definitiv vorhanden! Nur eben anders, als ich mir das gedacht hatte. Ich hatte mir eine aufgeklärte, bewusste Protagonistin erhofft, die gezielt Bündnisse mit Frauen angeht, ganz viel weiblicher support in einer unterdrückenden und unterdrückten Gesellschaft - und ich gebe zu, dass das naiv ist und war. Wie soll das in dieser Gesellschaft möglich sein? Und es hätte auch nicht zu Orwells Ton und Aussage gepasst. Nachdem ich diese anfängliche Enttäuschung verdaut hatte und Julias quasi ausschließliche Selbstdefinition über ihre Sexualität als ihren Weg, sich dem System zu entziehen, akzeptieren konnte, sah ich, wie Newman der Welt dennoch ihren Stempel aufdrückte: Menstruation wird angesprochen (sogar der in Spanien bereits beschlossene "Menstruationsurlaub"; ungünstiges Wort btw.), wie die Frauen sexueller Ausbeutung und Missbrauches ausgesetzt sind, selbst alltägliche Schwierigkeiten und Bloßstellungen wegen des Overalls und dem Toilettengang, künstliche Befruchtung und Abtreibung... Das alles aus Frauenperspektive zu erlesen und erleben, macht die Ungleichheit in Orwells dystopischer Welt für mich bedeutend greifbarer und erdrückender.

»Alles war gelogen. Alle wussten, dass alles gelogen war, aber alle logen wegen der Lügen, bis niemand mehr wusste, wo die Lügen anfingen und wo sie aufhörten. Das ganze Leben war ein Spiel der Täuschung gewesen, bei dem sich alle wie kleine Kinder gegenseitig etwas vorgemacht hatten.« 


Und auch wenn mir das explizite und starke female empowerment fehlte, ist es zwischen den Zeilen doch rauslesbar. Julia macht eine Charakterentwicklung und Reflektion ihrerselbst und ihrer Vergangenheit durch und die angedeutete Romanze war auch überraschend berührend. Unterteilt ist das Buch ja in drei Abschnitte und während mich im ersten vor allem die vulgäre Sprache irritierte, im zweiten Julias von O´Brien zugedachte Aufgabe und die Folter schockte, war ich von Julias Selbstermächtigung im letzten Abschnitt begeistert und empfand diesen Teil auch am angenehmsten zu lesen. Und dann kam das - für mich überraschende und schockierende - Ende, das einerseits unbefriedigend offen ist und so viele Fragen aufwirft, gleichzeitig aber eine hervorragende Parallele zum Ende von Orwells Dystopie ist und die gleiche hoffnungslose Verzweiflung hervorruft.

Bereits Winston lebte in wenig glamourösen Umständen mit langen Arbeitszeiten, schlechter Ernährung und besorgniserregendem Alkoholkonsum - den Frauen von denen Sandra Newman erzählt, ergeht es größtenteils noch schlechter und sowohl der Drogenkonsum als auch der Alkoholmissbrauch (sogar während der Schwangerschaft!), sind ständige Begleiter im Buch. Das alles kreiiert eine kaum zu ertragende Stimmung und Atmosphäre, die das Buch einerseits so unangenehm zu lesen machen und gleichzeitig die Faszination auslösen. Auch die omnipräsente Gewalt und Unterdrückung, die Folterszenen, der in Ozeanien verankerte Rassismus und Antisemitismus, sowie die Thematik von Eugenik lassen Lesefreude im klassischen Sinne nicht oder nur schwerlich aufkommen. Julia ist - wie 1984 auch - keine leichte Kost und hätte durchaus mit Triggerwarnungen versehen werden können.

»Man hatte keine Wahl. Man wurde vorangetrieben und versuchte, ein guter Mensch zu sein, wann immer man konnte. Man überlebte und bedauerte.«


Was ich für mich festgestellt habe, während ich teilweise - trotz der handwerklich exzellent umgesetzten Neuinterpretation - recht lustlos zum Buch griff: Ich glaube, ich will (vorerst?) einfach keine Dystopien mehr lesen. Ich habe genug von Umweltzerstörung und sozialer Ungerechtigkeit, von Kriegen und Armut, von Unterdrückung und patriarchalen Systemen, Rassismus und Vorurteilen. In der realen Welt ist all das bedrohlich genug - ich will nicht auch noch von fiktiven Welten lesen, die sich dieser menschengemachten Probleme nicht entledigen können. Zu viele Frauen sterben täglich, erleben Gewalt und werden vergewaltigt, als dass ich davon noch lesen mag. Wütende Kritik am Ist-Zustand, mutige Ideen, diesen aufzubrechen und optimistische Utopien - das will ich.

Ganz viel Text, gar kein Sinn?! Ich habe lange überlegt, wie ich das Buch bewerten soll - "schön" war es nicht, aber das soll es ja auch nicht. Dass ich dem Genre gegenüber momentan eine Abneigung entwickele, dafür kann es nicht. 1984 habe ich damals auch volle Punktzahl gegeben und Julia "gefiel" mir ja auf die gleiche Weise; sogar besser wegen der weiblichen Perspektive und ich bin begeistert, wie großartig Sandra Newman den Balanceakt zwischen Original und eigenem Werk meistert. Letztlich habe ich mich dafür entschlossen, nur einen halben Anker für die störende vulgäre Sprache abzuziehen und mit der Empfehlung zu verbleiben: Wer 1984 liest, sollte unbedingt auch Julia lesen. (Und wer Julia lesen möchte, hat mehr "Freude" daran, wenn 1984 zuvor gelesen wird.)


... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[5/5] Die Gestaltung des Covers finde ich großartig - direkt der Verweis auf 1984 und die rote Binde könnte Julias Schärpe aus der Antisex-Liga sein. Schlicht und dennoch (aussage-)stark. Gleiches beim Titel - ungünstig in der Suchanfrage, aber gut zu merken und ohne Firlefanz.


VIELEN DANK AN DIE LESEJURY FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR

1984 erzählt hässliche Gegebenheiten aus einer hässlichen Welt, bevölkert mit hässlichen Menschen - in hässlicher Sprache. Und trotz und wegen all des Widerwillens, den Orwell in mir wachrief, beschäftigte mich sein Werk, wühlte mich auf und brachte mich zum (Nach-)Denken. Diesen Ton trifft auch Sandra Newman. Sie bleibt Orwell und der von ihm geschaffenen Atmosphäre treu, greift aber die achtlos hingeschmissenen Krumen auf. Was Orwell nur Nebensätze und Winston keine Gedanken wert war, erzählt sie. Die weibliche Perspektive, der unsichtbare Alltag, das alltägliche Leiden und Leben der Frauen.

schockierend ~ beklemmend ~ aufwühlend

Habt ihr 1984 gelesen? Fallen euch noch mehr Werke ein, wo ein female retelling lohnenswert wäre; euch die Geschichte aus weiblicher Sicht interessieren würde? Ich kann ja nur wieder Werbung machen für The Dark Descent of Elizabeth Frankenstein!


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8 Kommentare:

  1. Ahoi Ronja!
    Kann deine Gedanken zum Buch sehr gut nachvollziehen. Ich bin zwar nicht mit diesen feministischen Grundgedanken herangegangen, aber gerade mit der teils sehr vulgären Sprache habe ich lange gehadert, auch wenn sie unumstößlich zu 1984 passt. Weshalb ich mich auch bei der Bewertung für mich zuerst schwer getan hab, eben weil das Buch alles in allem einfach ... ungemütlich ist. Ich hab es nicht unbedingt gern gelesen, aber eben auf gewisse Art und Weise doch. Wie soll man das ausdrücken? :D

    Alles Liebe noch im neuen Jahr1
    Gabriela

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    1. Ahoi liebe Gabriela und auch dir ein frohes Neues!
      Da bist du mir doch glatt zuvorgekommen - wollte heute bei deiner Rezension vorbeischauen :D
      Ungemütlich trifft es richtig gut; wahrlich kein gemütliches Lesen ^^ Kann dich richtig gut nachvollziehen mit dem nicht-gerne-lesen-und-irgendwie-doch...

      Liebe Grüße
      Ronja

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  2. Liebe Ronja

    Der Klassiker ist mir natürlich ein Begriff, aber ich habe George Orwells Buch in der Schule nie gelesen (wir lasen damals "Brave New World" von Huxley) und auch später nicht dazu gegriffen.

    Es wäre sicher spannend, die beiden Bücher direkt nacheinander zu lesen. Vielleicht mache ich das einmal.

    Alles Liebe an dich und vielen Dank für die aussagekräftige Rezension
    Livia

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    1. Ahoi liebe Livia,

      oh "Brave new World" haben wir dafür nicht gelesen und das will ich immer mal noch nachholen... mochtest du es? Auch "Fahrenheit 451" steht noch auf meiner Liste.

      Freut mich, dass dir meine Rezension gefiel 😊

      Ein schönes Wochenende wünsche ich dir!
      Ronja

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    2. Liebe Ronja

      Oh ja, ich mochte das Buch sehr gerne und fand die Gedankenexperimente spannend, wenn natürlich auch sehr heftig. "Fahrenheit 451" habe ich noch nicht gelesen, das könnte mir auch noch gefallen.

      Mir ist übrigens gerade noch eingefallen, dass ich "Animal farm" von Orwell (auch als Schullektüre) gelesen habe und das fand ich ebenfalls spannend. Irgendwann ähneln sich die Dystopien dieser Zeit aber mehr und mehr, wenn ich ehrlich bin.

      Alles Liebe an dich und ganz ein schönes Wochenende
      Livia

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    3. Sag gerne Bescheid, wenn du zu Fahrenheit greifen solltest; vielleicht können wir das ja zusammen lesen ^^

      Und ja, Animal Farm haben wir in der Schule auch gelesen und mit so einem Rollenspiel über das Halbjahr hinweg begleitet; wir waren alle Tiere mit Aufgaben und Skills und konnten dann so Punkte sammeln und am Ende gab´s für alle Pizza, weil wir quasi gegen den Lehrer gewonnen haben; das war echt mega! Aber ja, irgendwie wird Dystopie nach ner Weile doch sehr einheitsbreiig...

      LG Ronja

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  3. Huhu :),

    bsher bin ich noch um das Buch herumgeschlichen. Irgendwie wird seine Lektüre ja schon fast als muss angesehen. Vielleicht hab ich es ja deswegen noch nicht angefasst. ^^ Wobei ich mir dieses Jahr mal eine Liste mit Klassikern erstellt habe, die ich in den nächsten Jahren doch lesen will. Orwell steht natürlich auch darauf :) Bin gespannt ob es mir genauso gehen wird.

    Tintengrüße von der Ruby

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    1. Ahoi Ruby,

      1984 ist definitiv keine leichte Lektüre, ich würde sagen, nicht mal eine schöne. Aber sehr lohnenswert; empfehle ich dir. Und gerne danach noch Julia; das bereichert die Story doch sehr. Welche Klassiker hast du dir noch vorgenommen?

      LG Ronja

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