Montag, 11. September 2023

{Rezension} Weil da war etwas im Wasser ~ Luca Kieser

Weil da war etwas im Wasser || Luca Kieser || Picus Verlag || Roman || HC || 320 Seiten || 1/1

Alles dreht sich um einen monströsen Tintenfisch. Einen Riesenkalmar. Als dieser ein Tiefseekabel berührt, beginnen seine Arme und Tentakel zu erzählen. Davon, wie es ist, in ständiger Dunkelheit zu leben, wie es ist, für den Menschen ein Ungeheuer zu sein. Sie erzählen von Sanja, die ein Praktikum auf einem Frosttrawler absolviert und sich um einen gefangenen Kalmar kümmert. Sie erzählen von Dagmar, die für einen Geheimdienst in der Antarktis stationiert ist und diesen Kalmar unbemerkt nach Deutschland schaffen soll. Sie erzählen von einer Kindheit als Schäferstochter. Sie erzählen von einer Familie, deren Urahn schon mit einem Kalmar gekämpft hat. Sie erzählen von dem jungen Jules Verne, der von diesem Kampf hört und darüber zu schreiben beginnt. Am Ende erzählen sie davon, wie schwierig es für Menschen ist, von Tieren zu erzählen, und warum sie es dennoch tun.


Ohne Übertreibung - dieses Buch ist das ungewöhnlichste, das ich bis jetzt gelesen habe. Das beginnt schon mit dem wortakrobatischen Titel und äußert sich vor allem in der Ezählperspektive. Aber auch die Handlung(en) an sich. Doch der Reihe nach.

Die Erzählperspektive. Als Leserin musste ich höllisch aufpassen, der Geschichte folgen zu können, springt sie doch hin und her. Doch nicht etwa einfach nur zwischen verschiedenen Personen (das auch), sondern auch Zeiten. Und vor allem: Armen. Ja, Armen. Denn dieses Buch ist nicht etwa aus Sicht einer Kalmarin, sondern ihrer acht Arme geschrieben. Die sich auch gegenseitig in Fußnoten unterbrechen, auf spätere oder frühere Ereignisse hinweisen, mich blättern ließen und mir viel Konzentration abverlangten, wer hier gerade was und wann berichtet. Nach Beenden des Buches habe ich erstmal ein Beziehungsdiagramm gezeichnet, was ich bisher noch nie gemacht habe, hier aber einfach brauchte, um zu verarbeiten, was ich da gerade gelesen habe. 

Damit wären wir auch schon bei den Personen, oder besser Figuren - zwei (oder drei oder vier?) Kalmare, acht Arme, Familie Sanz über sieben Generationen (und drei Familienstränge!) und diverse weitere Leben, die alle über Ereignisse, Filme und Bücher, Zufälle, Gleichzeitigkeiten oder Bezüge zu Meer, Kraken und Walen verwoben sind. Teilweise wird aus Du-Perspektive berichtet, Tagebucheinträge spielen eine große Rolle, es gibt eine filmartige Szene, Zeitinkonsistenzen bei der Kalmarin und wie bei den Känguru-Chroniken erhöht sich das Lesevergnügen mit (geschichtlichem) Allgemeinwissen. Ich denke, ich habe nicht alle Anspielungen und Fingerzeige begriffen, wohl aber die unterliegende Kritik and Kapitalismus und Patriarchat.

Die klassische Frage des "Worum geht´s" könnte ich bei diesem Buch nur schwerlich beantworten. Um alles, irgendwie. Von der (Krill-)Fischerei und der Parfümherstellung aus tierischem Ambra über die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, Nachhaltigkeit und Klimaschutz zu Kunst und Kultur, (Umgang mit) Sexualität und der Suche nach Liebe und Anerkennung ist alles dabei. Das Motiv des Kraken, sowie Ekel, Angst und Scham ziehen sich als eine Art roter Faden durch das gesamte Buch und obwohl gerade die letzte Szene "unseres jungen Autors", wie der namenlose Mann genannt wird und der im Buch das Buch schreibt (oder zumindest Teile davon), mich verwirrte, habe ich doch das Gefühl, dass alles zusammen passt. Dieses Buch könnte ich noch mehrere Male lesen und würde doch bestimmt immer wieder Neues entdecken und verstehen. Es ist fragmentarisch und muss so sein, es lebt von all den Fragezeichen. Bis zur letzten Seite flog ich atemlos durch die Zeilen, da ich verstehen wollte, was gerade geschieht und wie das alles zusammenhängt. 

»Aber vielleicht ist das etwas, was vom Schreiben kommt. Also dass man selbst die langweiligsten Sachen halt so beschreiben kann, dass sie spannend werden. [...] Vielleicht ist auch deshalb viel Literatur so langweilig, weil es so spannend ist, zu schreiben, und denjenigen, die schreiben, gar nicht auffällt, dass es nicht unbedingt spannend ist, das dann zu lesen.«


Ganz ehrlich, über dieses Buch könnte ich noch lange reden und schreiben und doch nichts aussagen, denn hier gilt ganz besonders: Selbst lesen! Wer an meinem wilden Beziehungsgeflecht interessiert ist, kann es sich hier anschauen (es spoilert jedoch durchaus); ansonsten findet selbst heraus, was Jules Vernes, Disneyland, der weiße Hai, Sindbad, ein Pharmaunternehmen, die Polarstern, Odysseus, deutsche Wälder, das südafrikanische Musikgenre Amapiano, die Sahelzone, spanischer Kragen, Unterwasserkabel und eine weggeworfene Zahnbürste sowie das Unternehmen Palantir und Odyssee im Weltraum verbindet.

Es hat mich einige Zeit gekostet, mich auf das Buch einzulassen; im Nachhinein jedoch bin ich begeistert davon was hier auf 300 Seiten alles passiert ist und angerissen wurde. Wie in einem Panopktikum reihte sich Kurioses an Skurriles; nie wusste ich, was sich als nächstes ereignen und wem ich begegnen würde, denn das Buch folgt seiner eigenen Logik. Alles ist (gleichzeitig) möglich. Offene Fragen sind mir geblieben und zugleich bin ich genau so mit dem Buch zufrieden, wie es ist und vor allem, dass ich es gelesen habe!


... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[5/5] Der etwas sperrige und ungewöhnlich formulierte Titel (oder ist das in Österreich normales Deutsch?) kommt mehrfach im Buch selbst vor und passt auf vielfältige Art zum Geschehen, bleibt aber genauso vage wie die Darstellung des Kalmars auf dem Cover. Gefällt mir beides!


VIELEN DANK AN VORABLESEN FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR

Ein intelligentes Buch, eines das viel Konzentration einfordert und Bereitschaft, Skurriles hinzunehmen. Ein Buch über Alles und Nichts, Gott und die Welt. Menschsein im Mikro- und Makrokosmus; aus Sicht von Kalmararmen.

unkonventionell ~ verwirrend ~ vielschichtig

Mögt ihr Bücher, bei denen ihr euch richtig konzentrieren müsst? Habt ihr Bücher aus Tierperspektive gelesen? Und spricht euch dieses an?


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2 Kommentare:

  1. Hallo liebe Ronja,
    ich muss ja sagen, dass ich durchaus gerne Bücher abseits des Mainstreams lese und auch skurrile Figuren und besondere Schreibstile gelegentlich liebe. Aber hier muss ich sagen, bin ich mir nicht sicher, ob das Buch was für mich wäre. Alleine deine Skizze bzgl. der Beziehungen wirkt schon recht ... komplex. Auch die vielen Zeit- und Inhaltssprünge mögen, lässt man sich darauf ein, besonders und interessant sein.

    Ich lese jedoch auch gerne abends nach der Arbeit und es scheint mir, als bräuchte man für dieses Buch viel Konzentration und sollte es möglichst auch mit wenig Unterbrechungen konsumieren (?)

    Deine Vorstellung empfand ich - nichts destotrotz - als sehr spannend und interessant. Vielen Dank für diesen horizonterweiternden Einblick in ein Buch, das mir vermutlich sonst gar nicht ins Auge gesprungen wäre.

    Liebe Grüße
    Tanja :o)

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    1. Ahoi liebe Tanja,

      ja das Buch ist definitiv komplex und ich glaube eines jener, die Menschen entweder lieben oder gar nicht mögen. Dank der vielen kurzen Abschnitte, die fast schon wie ein Film mit vielen Cuts und Szenenwechseln, sich aneinanderreihen, ist auch kurzes Lesen gut möglich; schnell kommt eine geeignete Stelle, zum Aufhören (ob man das dann will, ist ne andere Frage xD), aber ja, Konzentration braucht das Buch schon. Oder du musst halt viel Blättern, um auf Spur zu bleiben ^^

      Vielleicht liest du es ja doch irgendwann; würde mich auf jeden Fall interessieren, ob es dir gefällt ^^

      LG Ronja

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