Dienstag, 10. Oktober 2023

{Rezension} Das Vogelmädchen von London ~ Mat Osman

Das Vogelmädchen von London || Mat Osman || Rütten & Loening Verlag || 
historischer Roman || HC || 493 Seiten || 1/1

London, 1601. Shay ist Botenmädchen, Falknerin und Wahrsagerin, die in den Flügen der Vögel die Zukunft zu sehen vermag. Nonesuch ist der Star des sagenumwobenen Blackfriars-Theaters, wo eine Gruppe von Jungen für den Londoner Adel auftritt. Als sie über den Dächern Londons fliehen müssen, weil Shay gefangene Vögel befreit hat, lernen die beiden sich kennen – und verlieben sich. Dann gründen sie gemeinsam das Ghost Theatre, das in den versteckten Winkeln der Stadt phantastische Stücke aufführt. Doch bald verbreitet sich der Ruf Shays als Wahrsagerin – bis auch Königin Elizabeth sie aufsucht. Shay fällt wie üblich in Trance und weissagt der Königin – mit ungeahnten Folgen.


Ich gebe es zu - das Cover hat mich magisch angezogen und neugierig auf das Buch gemacht. Und Theater, Liebe und eine Prise Magie im elisabethanischen London? Das klang vielversprechend!

Doch nach einem atemlosen Start folgte schnell Ernüchterung - obwohl die Handlung gerade zu gehetzt wirkte, empfand ich die Kapitel als langatmig. Über die Gemeinschaft und Fähigkeiten der Aviscultarier erfuhr ich wenig bis nichts; die Figuren blieben blass und unnahbar; die Liebesgeschichte konnte mich nicht berühren - ja mehr noch, sie hinterließ ein unangenehmes Gefühl bei mir. SPOILER! Wie sich dann ja auch herausstellte zu Recht - Nonesuch manipuliert und nutzt sie aus; wobei er selbst darin fast zu bemitleiden ist. Anders als Trussell scheint er das Lieben nie gelernt zu haben, glaubt sogar, geliebt zu haben. Tragisch.

Mehrmals war ich kurz davor, das Buch abzubrechen. Weil ich mich durch die Seiten schleppte, nicht mitfieberte und mich allgemein unwohl fühlte. Denn was zwischen den Buchdeckeln passierte, war teilweise entsetzlich schrecklich und schockierend, aber zugleich nüchtern geschildert und dadurch wenig ergreifend. Mat Osman nimmt kein Blatt vor den Mund - was sich auch in derber Sprache äußert, die mit seinem sonst zwischen prosaisch und schwülstig oszillierenden Schreibstil stark kontrastiert. Während Shay London in all seiner Hässlichkeit liebt und Schönheit überall zu finden vermag, während wunderbar bildliche und meisterhaft formulierte Beschreibungen diese Stadt der Vergangenheit fast schon greifbar machten, riss die unhistorische Ausdrucksweise mich immer wieder aus dem verzauberten Bann. "Ficken", "pissen", "Scheiße" und "Kotze" lese ich allgemein nicht gerne und schon gar nicht in einem magisch-angehauchten historischen Roman.

»Unsere Herzen gleichen Schiffen und ist des Lebens Wetter gut, so bilden wir uns ein, des Herzens Kapitän zu sein. Wir sind es, die den Kurs des Herzens steuern. Wir setzen Segel, auf zu neuen Landen. Wir erkunden. [...] Doch das ist Täuschung. Denn wenn echte Stürme aufzieh'n, so packen sie die Schiffe uns'rer Herzen und schleudern sie nach hier, nach da. Wir sind nicht Kapitäne mehr. Stattdessen hängen wir am lieben Leben, umklammern wir den Mast, wenn Winde um uns tosen. [...] Unsere Herzen gleichen Schiffens. Und heute ist der Sturm gekommen. Der Sturm hat uns erreicht, und mein Herz, es ist verloren auf der mörderischen See.«


Im Nachhinein bin ich dennoch froh, das Buch beendet zu haben - zum einen beeindruckte mich die Eloquenz der Beschreibungen, wie es Osman gelingt Glanz und Elend zugleich einzufangen, und zum anderen stimmte mich das Ende dann milder. Während der Tumult auf den letzten Seiten mir zu konfus war, brachte der Epilog eine wohlwollende Stille, ein erleichtertes Aufatmen. Und einen der wenigen Momente, in denen ich Anteilnahme mit den Figuren und dem Geschehen fühlte. Schade, dass das nicht öfter passierte! 

»Die Sache ist die, Shay: Die Bühne ist der einzige Ort, wo die Welt einen Sinn ergibt. Da draußen ist alles Willkür. Helden sterben, und die Guten müssen leiden. Das hier ist der Ort, an dem die Wahrheit lebt. Draußen ist alles tot, nichts kann atmen, nichts kann wachsen. Wörter sind Totgeburten. Aber hier.... Hier sind wir die Könige. [...] Die wirkliche Welt hat uns nichts zu bieten. Ihre Kulissen sind platt. Ihre Texte sind sinnlos. Ihre Kostüme sind fad.«


Überhaupt - die Geschichte hätte so großartig sein können; ein faszinierendes und schillerndes Setting, moralisch graue Figuren und Entscheidungen, ein Hauch von Magie und Übernatürlichem und mit Shay eine Protagonistin, die sich und ihren Weg - tastend und mit Rückschritten - finden muss. Mir fehlte jedoch der rote Faden; die Handlung mäanderte vor sich hin, Szene reihte sich an Szene und ich war bestürzt, aber nicht ergriffen.

»Nonesuch und der Sperling. Der Sperling und Nonesuch. Was für eine Geschichte! Sie hatte alles: Das Vogelmädchen und der Wechselbalg. Königinnen und Zauberer. Schätze und Verrat. Aber es konnte nur eine Tragödie sein, das musst du doch verstanden haben. Wenn die niedrig Geborenen nach der Sonne greifen, wird die Welt sie im Feuer verzehren.«


Es bleiben auch etliche offene Fragen, denn obwohl das Buch verhältnismäßig lang ist, fehlte es mir an Worldbuilding - gerne hätte ich mehr über Shays Gemeinschaft und ihre Visionen erfahren. Zu beidem bekam ich nur Krumen hingeworfen, vage Andeutungen. Und auch der historische Kontext hätte für mich einer Einordnung bedurft - gerne eine Zeittafel oder zumindest ein Nachwort zu den wahren Ereignissen und realen Figuren. So blicke ich auf das Gelesene mit allerhand Zweifeln, weil doch vieles zu fantasievoll und dramatisch erscheint. Überhaupt; das Genre - sogar auf das Cover ist historischer Roman aufgedruckt, ich sortiere das eher als Jugendbuch mit historischem Setting und paranormalen Elementen ein.


... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[5/5] Geheimnisvoll, düster und schillernd zugleich - ein wunderbares Cover, das mich anzog und neugierig machte und auch den Titel halte ich für gelungen, wenn auch unspektakulär.


VIELEN DANK AN VORABLESEN FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR

Konnte mich über lange Strecken nicht packen und riss mich mit vulgären Ausrücken immer wieder aus dem Sog der ansonsten so anmutigen Beschreibungen. Plot und Setting haben viel Potential, das in meinen Augen nicht ausgeschöpft wurde.

prosaisch ~ zäh ~ erschreckend

Lassen euch Bücher auch manchmal unwohl fühlen? So ein pelziges Gefühl, dass das Lesen wenig bis keine Freude bereitet? Lest ihr historische Romane/Fiktion?


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4 Kommentare:

  1. Hi Ronja!

    Mich hat das Cover auch total angesprochen und auch vom Klappentext her hab ich mir hier eine faszinierende Geschichte erwartet.
    Was du dazu schreibst klingt jetzt für mich aber nicht wirklich so, als wäre es was für mich... grade auch die Vulgärsprache passt hier für mich überhaupt nicht rein und hätte ich auch gar nicht erwartet.
    Naja, wieder ein Buch weniger auf der Wunschliste :)

    Liebste Grüße, Aleshanee

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    1. Ahoi liebe Aleshanee,

      ja, das kam für mich auch total unverhofft ^^ Zumal der Schreibstil sonst ja fast schon poetisch schön und liebevoll beschreibend ist... wirklich schade, das Buch hatte viel Potential.

      LG Ronja

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  2. Liebe Ronja

    Hmmmm.....das würde eigentlich gut klingen und sieht auch toll aus, aber nach deiner Rezension weiss ich, dass mir dieses Buch definitiv nicht gefallen würde. Schade.

    Alles Liebe an dich
    Livia

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    1. Ahoi liebe Livia,

      ja, du sagst es: Schade! Die Grundprämisse war klasse, die Beschreibungen anmutig, aber es kam einfach kein Lesespaß auf ^^

      Liebe Grüße
      Ronja

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