Donnerstag, 23. September 2021

{Rezension} Die Erfindung der Kontinente (und was ich darüber lernen konnte) ~ Christian Grataloup

Die Erfindung der Kontinente || Christian Grataloup || wbg || Sachbuch || HC || 256 Seiten || 1/1

Weshalb ist auf Karten Norden immer oben? Ist die Türkei ein Teil Europas? Gibt es sieben oder fünf Kontinente, und worauf basiert diese Einteilung? Grenzen und Zuordnungen von Ländern und Meeren, die uns selbstverständlich und unverrückbar scheinen, sind in Wahrheit das Ergebnis geschichtlicher und geopolitischer Entwicklungen. Christian Grataloup hat sich in Weltkarten und Atlanten von der Antike bis heute auf Spurensuche begeben. Er zeigt, wie unterschiedlich Händler, Seefahrer und Kolonialherren die Welt betrachtet haben, und warum die Darstellung der Erde nicht so eindeutig ist wie gedacht. 


Weltkarten üben schon immer eine Faszination auf mich aus - egal ob Berufswunsch Archäologin, Diplomatin oder nun Seefahrerin: Die Frage nach dem Wo ist das? spielt eine große Rolle. Diesem Buch konnte ich also gar nicht widerstehen.

Glücklicherweise; entführte es mich doch auf eine wunderbar lehrreiche Rundreise durch die Zeiten - von den ersten Darstellungen der Welt bis ins All. Es ist faszinierend, wie die Menschen verschiedenster Kulturen und Epochen unseren Planeten (bzw. meist Teile davon) sahen, was sie sich vorstellten und ausdachten und wie diese Imaginationen und Erklärungen bis heute unser Verständnis der Geographie und Kartographie prägen. 

»Argumentiert man mit Kontinenten als einer von Natur aus vorgegebenen Tatsache, so lässt sich damit eine Stellungnahme zu Kulturräumen und Zivilisationen diplomatisch umgehen.« 


Allen, denen schonmal eine Karte untergekommen ist, die nicht der klassischen Mercatorprojektion (winkeltreu, genordet, Europa zentral) entspricht, ist bewusst, dass Darstellung Wahrnehmung prägt - Abstände, Größen, aber eben auch das "zentral" und "am Rand". Dass aber nicht nur die Art, wie wir die Welt heute darstellen, sondern auch wie wir über sprechen, dass Begriffe wie Kontinent historisch und kulturell stark geprägt sind; wie viel unterschwellige Botschaften mitschwingen - das arbeitet Christian Grataloup ausgezeichnet heraus. Karten sind natürlich Resultat des technischen Fortschrittes und der wissenschaftlichen Erkenntnisse - aber eben auch "Träger einer Weltsicht, die auf ältere Quellen zurückgeht", wie Grataloup schreibt.

Und so ist das Buch nicht nur eines über Geographie und Kartographie, sondern auch und vor allem über Geschichte und sich wandelnde Weltbilder. Dabei ist fast jede Seite mit farbigen Abbildungen ausgestattet. Mich hat besonders erfreut, dass diese (fast immer) im Text oder der Unterschrift erklärt, gedeutet oder näher betrachtet wurden; Bilder und Ausführungen bilden eine Einheit.

»Die von Europäern für Europäer geschaffene Inszenierung der Welt strebt danach, die eigene Identität herauszuarbeiten; dadurch wird (aus Sicht der Initiatoren der Weltaneignung) auch die Identität der anderen erzeugt. Dieses ikonographische Unterfangen geht Hand in Hand mit der fortschreitenden Kolonialisierung der Welt durch den »Alten Kontinent« Europa.« 


Sicherlich kann in diesem Buch auch einfach nur geblättert werden - gerade die doppelseitigen und aufwendigen Karten laden dazu ein. Das Spannende passiert jedoch im Text. Der ist jedoch, das muss ich zugeben, durchaus akademisch; erinnerte mich an Seminaren zu kritischer Geographie. Keineswegs schreibt Grataloup fachidiotisch oder vollkommen unverständlich, aber schon anspruchsvoll und in den Sozialwissenschaften verhaftet

Geographie und Geschichte also - durchaus aber auch Politik (letztlich sind diese Teildisziplinen sowieso nicht trennscharf voneinander abzugrenzen ^^) bringt der Autor ein, indem er EU-Erweiterung(en) und Brexit streift.

»Die Europäer haben kein angestammtes Vorrecht auf ihre Grenzen: Sie sind angehalten zu klären, worüber sie sich definieren, wodurch sie sich unterscheiden und mit wem sie diese Identität teilen.« 


Ich konnte auf jeden Fall eine Menge mitnehmen: 
  • Wusstet ihr zum Beispiel, dass das Wort Orientierung sich davon ableitet, dass Karten früher geostet waren? Sich also mit einer aktuellen (genordeten) Karte orientieren zu wollen, ist semantisch zumindest komisch. Septentrionieren (oder so ähnlich) wäre korrekter - und quasi unmöglich auszusprechen ^^ 
  • Nicht-bibelfest wie ich bin, fand ich auch die Geschichte von der Trunkenheit Noahs, der folgenden geographischen Verteilung seiner Söhne und die damit verbundene christliche Vorstellung und Grenzziehung der Welt in drei Kontinente (und die theologischen wie praktischen Schwierigkeiten, die mit der "Entdeckung" Amerikas als weiteren Kontinent damit einhergingen) erhellend. 
  • Faszinierend finde ich weiterhin, dass mit Zealandia im Pazifik ein vollständig untergegangener Kontinent - halb so groß wie Australien - liegt. 
  • Ein Fun-Fakt für mich: Genau 90 Jahre vor meiner Geburt erreichte Robert Pearys Polarexpedition als erste offiziell den Nordpol.


... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[5/5] Das Buch glänzt wie gesagt mit seinen vielen Abbildungen, eindrucksvollen Karten und einer allgemein gelungenen Gestaltung (auch wenn es meinen Lesefluss doch störte, wenn ein Satz durch 2 Doppelseiten Bilder unterbrochen wurde). Den Titel finde ich einladend und äußerst passend; für das Cover hätte ich eine ausgefallenere Darstellung, zum Beispiel eine nicht-genordete Karte, noch besser gefunden.


VIELEN DANK AN LITERATURTEST FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR

Anspruchsvoll, aber wahrlich interessant und großartig bebildert - für mich eine großartige Verschmelzung aus Kartenmaterial der Menschheitsgeschichte und Einblicken in die Imagination, Konzeption und Wahrnehmung der Welt. In aller Fairness muss ich jedoch sagen, dass sowohl Preis als auch Sprachstil die Zielgruppe wohl stark einengen; ich kann das Buch jedoch besten Gewissens empfehlen.

anspruchsvoll ~ aufschlussreich ~ anschaulich

Könnt ihr euch für Atlanten und (alte) Karten begeistern? Kennt ihr die Geschichte von der Trunkenheit Noahs? Hat an eurem Geburtstag (auch in anderen Jahren) ein bedeutendes Ereignis stattgefunden/fällt er auf einen Feier- oder Gedenktag?

NACHTRAG: Mir wurde die Website The True Size Of empfohlen - dort kann man per Drag & Drop Länder verschieben, in Relation setzen und die Verzerrung der klassischen Projektion auflösen, um wahre Größen zu sehen.


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2 Kommentare:

  1. Liebe Ronja

    Das sieht wundervoll aus, super schön aufgemacht, informativ, spannend, vielseitig... Ich werde mir das Buch auf jeden Fall näher ansehen, danke für den Tipp.

    Alles Liebe
    Livia

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    1. Ahoi Livia,

      das ist es auf jeden Fall! Nur leider echt teuer :/ Aber vielleicht bekommst du das ja mal irgendwo günstig oder kannst es dir ausleihen :)

      LG Ronja

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