Mittwoch, 9. November 2022

{Rezension} Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit ~ Natasha Pulley

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit || Natasha Pulley || Klett-Cotta || 
historische Fiktion || eBook || 544 Seiten || 1/1

1898 erwacht Joe Tournier ohne jegliche Erinnerungen am Bahnhof Gare du Roi in Londres. Die Welt steht Kopf: England ist französisch, und Joe wird in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Nur wenig später, als er wieder in Freiheit ist, trifft eine rätselhafte Postkarte bei ihm ein, die 90 Jahre zu ihm unterwegs war. Auf der Postkarte ist ein Leuchtturm auf einer Insel in den Äußeren Hebriden mit dem Namen Eilean Mor abgebildet, auf der Rückseite steht ein kurzer Text: "Liebster Joe, komm nach Hause, wenn du dich erinnerst. M."  Was hat es mit dem Leuchtturm auf sich und wie kann ein Mann mittleren Alters aus einer 90jährigen Vergangenheit heraus vermisst werden? Und wer ist M.? Joe macht sich schließlich auf die nicht ungefährliche Reise nach Schottland, um den Leuchtturm zu suchen und findet stattdessen einen Weg in die Vergangenheit. Unversehens gerät er in die Turbulenzen der großen Schlachten zwischen England und Frankreich, die lange vor seiner Geburt entschieden wurden. Schnell wird klar, dass jeder Schritt in die Vergangenheit auch seine Zukunft beeinflusst. 


Dieses Buch wollte ich schon seit dem Erscheinen letztes Jahr lesen; als es nun mit diesem wunderschönen Cover ins Deutsche übersetzt wurde, konnte ich nicht länger widerstehen - Leuchtturm, Zeitreise und eine Autorin, die auch auf der Pelican gesegelt ist; das klingt schon nach einem Buch für mich!

Bereits mit Widmung und Dankwort hatte die Autorin mein Herz berühren können - und auch auf allen folgenden Seiten war herauszulesen, dass sie nicht nur in Büchern über Seefahrt informiert hat, sondern selbst an Bord war. Ich liebe es, wie sie mit ihren Beschreibungen das Setting lebendig machte, mich förmlich zwischen die Seiten sog - das ohrenbetäubende Rattern der Ankerketten, dieses Gefühl, mitten in der Nacht geweckt zu werden und wie man sich dennoch an den Wachrhythmus gewöhnt, das Hochgefühl trotz und wegen der Erschöpfung nach dem Steuern, wie die Seekrankheit im Liegen oder bei Konzentration nachlässt, wie Becher wegen des Seegangs über den Tisch rutschen... Ich hatte das Gefühl, selbst dabei, wieder an Bord zu sein. Und auch die Schlacht- und Kampfszenen sind durch die Details realistisch und bildlich; Schrecken und Verlust liegen die ganze Geschichte über in der Luft und lassen das Grauen von Krieg lebendig werden.

»Weil die See rau war, brauchte es zwei Leute, um das Steuerrad zu halten. Es war harte Arbeit, weshalb es auch niemand länger als eine Stunde machen durfte. [...] Als die Stunde um war, waren sie durchnässt und dennoch bester Laune, und Joe wurde schlagartig klar, warum sich all diese Leute zu einem so nassen, elenden, gefährlichen Leben bereit erklärt hatten. Es war schlicht der beste Arbeitsplatz der Welt.«


Die Geschichte besteht aus vielen Zeitsträngen und möglichen Verläufen, die die Autorin geschickt umeinander gewoben hat, sodass erst ganz am Ende alle Fragen geklärt sind. Okay, nicht alle, aber dafür muss ich in die Spoilerkiste greifen:

ACHTUNG SPOILER! Jem Castlereagh (der seinen wahren Nachnamen leider nicht verrät) aus dem Jahre 1891 landet durch die Säulenquerung 1797 und bleibt in dieser Zeitversion acht Jahre; in Trafalgar verlieren die Briten 1805. Mit Kite möchte er 1898 (warum bringen die Säulen ihn 93 Jahre in die Zukunft, obwohl er 94 zurückgereist ist?) die Lage sondieren, doch die Geschichte hat sich verändert und er wird zum gedächtnislosen Joe Tournier. Kite lässt ihn dort und kehrt in seine Zeit zurück. Joe lebt zwei Jahre vor sich hin, um 1900 (mehr oder wenig unfreiwillig) ins Jahr 1807 zurückzukehren um dort einiges zu erleben und erleiden; beim erneuten Durchqueren der Säulen wird er zum (erneut gedächtnislosen) Joe Dschang in einem England, das nicht französisch ist. Wie konnten sie das 1807, nach Trafalgar noch ändern? Wegen Edinburgh? 1903 holt ihn dann also Kite ab (ich nehme mal an, Joe hat drei Jahre so gelebt; sonst wäre der Zeitsprung 96 Jahre...) - in welches Jahr kehren sie jetzt zurück? 1810? Und wie viel hat sich dort verändert? Trafalgar? Agatha? 

Geschickt reißt die Autorin etwas an, nur um dann die Szene zu wechseln oder einen Bericht abrechen zu lassen, sodass über das gesamte Buch hinweg viel Ungewissheit herrscht, was genau geschieht. Manches ahnte ich dabei, anderes hingegen konnte ich mir nicht zusammenreimen und oftmals musste ich die Geschehnisse kurz zeitlich lokalisieren, um folgen zu können - eine meisterhaft komplexe, unkonventionelle und spannungsreiche Erzählung! Keine Geschichte, die ich einfach so nebenbei lesen konnte, sondern eine, auf die ich mich einlassen musste und die mich nach Beenden noch immer nicht losließ. Es ist alles erzählt und doch würde ich so gerne noch länger in dieser Welt verweilen, bei liebgewonnenen Charakteren und sicherstellen, dass es ihnen (jetzt) gutgeht...

Denn die Charaktere sind ein weiterer Grund, dieses Buch zu lieben - sie sind vielschichtig und von Schicksal, Krieg und Leid gezeichnet; keine 0815-Figuren, sondern Menschen mit Ecken und Kanten, die sie realistisch und greifbar, liebenswert, machen. Und ja, es gibt eine Liebesgeschichte, die sich durch die Zeitstränge windet, zart und verzweifelt und genau deshalb so berührend. Sie schimmert bis zum Ende immer wieder durch, nimmt aber nie viel Raum ein, sondern taucht nur an den Rändern der Wahrnehmung auf und ist dennoch essentiell. Eine Liebe, die sich langsam entwickelt, die Zeit überdauert und mich auf den letzten Seiten atemlos mitfiebern ließ.

»Wie stolperte man einfach so in das-ja, was war das hier überhaupt? Die napoleonischen Kriege? Wie stolperte man in all das, ohne dass ein himmlischer Alarm losging und irgendein niederrangiger Heiliger aus der Verwaltungszentrale des Universums herbeieilte, um dafür zu sorgen, dass man nicht am göttlichen Plan herumpfuschte?«


Kurzum, diese unkonventionelle Erzählung hat einfach alles, um mich zu begeistern - authentische Beschreibungen des Lebens auf See, das Spiel mit der Faszination Leuchtturm, Geheimnisse und Zusammenhänge, die erst nach und nach gelüftet und erklärt werden, überzeugende Charaktere, eine berührende Liebesgeschichte, viel Verzweiflung und Action. Spannung von der ersten Seite an.


... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[5/5] Ich LIEBE diese Covergestaltung - die Farben, die Briefmarkenoptik, den Leuchtturm... Und auch der Titel ist wunderbar - geheimnisvoll und wohlklingend. Er ist durchaus irreführend, weil es ja letztlich nicht um diesen Turm geht, aber er spielt in Form der Postkarte und wegen seiner Lage an der Schwelle der Zeit dennoch eine wichtige Rolle.



Eine grandiose historische Fiktion, wohlrecherchiert, mit intelligent durchdachten Zeitreisen, facettenreichen Charakteren, einer leisen Liebesgeschichte und geschickt konzipierten Spannungsbogen. Mein Seefahrtsherz ist begeistert.

mitreißend ~ komplex ~ fesselnd

Findet ihr (Bücher über) Leuchttürme auch zu faszinierend? Mögt ihr Bücher mit Zeitreisen und alternativen Geschichtsverläufen? Lest ihr Bücher über Kriege?


 Ähnliche Bücher in meiner Schatztruhe:
{mit einem Klick auf die Cover gelangt ihr zu den Rezensionen}

10 Kommentare:

  1. Hi Ronja,
    es war schon fast eine logische Konsequenz, dass Dir das Buch gefällt bzw. gefallen musste :) Ich hatte allerdings ein bisschen was zu mäckeln ;)
    Viele Grüße
    Frank

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ahoi Frank,

      haha stimmt schon; maritime Bücher mit Schiffen und/oder Leuchttürmen, das ist einfach mein Ding xD Und dann noch Zeitreise... Ich gucke gerne bei dir rein; danke für den Link :)

      LG Ronja

      Löschen
  2. Hi Ronja,

    freut mich sehr dass dir das Buch so gut gefallen hat - ich war ja auch total begeistert! Man war definitiv immer mitten dabei und die Beschreibungen hatten so eine authentische Wirkung, dass man sich mitten im Geschehen fühlte.
    Deine Überlegungen zu den Zeiten ... also so explizit hab ich mir da keine Gedanken gemacht. Für mich hat sich alles logisch angehört beim lesen und dann hinterfrage ich auch nicht so viel - oder rechne nach :D
    Alles hat ja irgendeine Veränderung ausgelöst und deshalb war es auch am Ende so. Wie das genau vonstatten ging weiß ich jetzt auch nicht mehr, nur dass es sich für mich logisch anhörte.

    Liebste Grüße, Aleshanee

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ahoi Aleshanee,

      ja, einfach ein sehr gelungenes Buch ♥ Ist glaube ich einfach so´n Steckenpferd von mir, dass ich solche Sprünge dann bis ins letzte Detail verstanden/erklärt haben möchte xD Aber hach, auch die Liebesgeschichte, soooo sweet, obwohl ja nicht wirklich was passiert.

      LG Ronja

      Löschen
    2. Die Detailgenauigkeit bei Zeitreisen lass ich schon lange außer acht, weil es eigentlich nie funktioniert - ist ja auch immer ein Widerspruch, egal wie man es dreht und wendet ;)

      Ja, die Liebesgeschichte war total schön, genauso mag ich es, wenn sie eben nicht so im Vordergrund steht <3

      Löschen
    3. Hahaha, stimmt und entspannter liest´s sich dann auch ^^
      Wobei, kennst du die Zeitdetektive? Da ist das geschickt gelöst, die haben einfach keinen Einfluss, auch wenn sie gesehen werden & durch ein Wunder tragen sie auch gleich die richtige Kleidung und sprechen die richtige Sprache. Kinderbuchliebe :D

      Und ja voll, wenn ich nicht zu Liebesbüchern greife, dann ja, weil ich an der Geschichte an sich interessiert bin und nicht primär am Liebesdrama ^^

      LG Ronja

      Löschen
    4. Hm, ja, ich glaube ich kenne die Zeitdetektive sogar - aus meiner Zeit als ich meinen Kindern vorgelesen hab :) Wobei keinerlei Einfluss und Kleidung/Sprache ja auch komplett unlogisch sind *lach* Aber bei einem Kinderbuch hinterfragt man halt sowas nicht.

      Ich hab schon ein paar Zeitreisebücher gelesen und manche verpacken es echt gut. Aber komplett logisch? Hab ich noch keins gefunden. Funktioniert aber eben meiner Ansicht nach auch nicht :D

      Löschen
    5. Haha, sehr gut! Und ja stimmt schon, Zeitreise kann halt nicht 100% logisch sein... und ne, bei Kinderbüchern nimmt man (gerade als Kind) vieles als gegeben hin. Ich sag nur magisches Baumhaus :D

      LG Ronja

      Löschen
  3. Liebe Ronja

    Das klingt toll. Das Buch hätte ich keines zweiten Blickes gewürdigt, aber du hast mich sehr neugierig gemacht. Ich werde es mir definitiv einmal näher ansehen.

    Alles Liebe an dich
    Livia

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ahoi liebe Livia,

      oh ja, unbedingt! Es ist keines, was man so zwischendurch lesen sollte - lieber mit Zeit und Konzentration. Aber es lohnt sich ♥

      Ganz liebe Grüße zurück
      Ronja

      Löschen

Lass´ mir doch einen Kommentar da! Ich würde mich über deinen Landgang sehr freuen :)