Montag, 8. Juli 2024

{Rezension} Feminismus: Die älteste Menschenrechts- bewegung der Welt ~ Agnes Imhof

Feminismus: Die älteste Menschenrechtsbewegung der Welt. Von den Anfängen bis heute || 
Agnes Imhof || Dumont Verlag || Sachbuch || HC || 384 Seiten || 1/1

Der Feminismus, die älteste Menschenrechtsbewegung der Welt, wurde über die Jahrhunderte immer wieder zurückgedrängt. Mit jedem Backlash wurden Protagonistinnen und ihre Ideen vergessen. Dieses Buch erzählt von Frauen wie Marie de Gournay, Olympe de Gouges, Clara Zetkin, Hedwig Dohm, Kate Millet, Huda Sharawi, Fatima Mernissi bis hin zu zeitgenössischen Feministinnen wie Chimamanda Ngozi Adichie und Rebecca Solnit. Es stellt die Thesen ihrer wichtigsten Werke vor und steckt aktuelle Brennpunkte ab: von »Rape Culture« bis Corona-Backlash, von Reproduktionsmedizin bis zu angeblich »weiblicher« Begabung. Dabei gibt Agnes Imhof einen Überblick über eine Vielzahl von Strömungen und Positionen. Denn Feminismus war und ist divers. Die Autorin beleuchtet die bürgerlichen und proletarischen Bewegungen ebenso wie die antikolonialen Frauenbewegungen in Afrika und Lateinamerika sowie Positionen von Frauenrechtlerinnen der islamischen Welt. Agnes Imhof beschreibt Welle um Welle im Kontext der Zeit und porträtiert dabei außergewöhnlich mutige, kluge und leidenschaftliche Frauen.


Lange schon schiebe ich diese Rezension vor mir her - so zwiegespalten bin ich. Aber lest selbst.

Bereits von der ersten Seite an ist der Schreibstil persönlich, direkt und bisweilen humorvoll zynisch. Zudem wird deutlich, wie viel Wissen Agnes Imhof hat und wie gründlich die Recherche war - hier beginnt jedoch auch schon mein erster Kritikpunkt; die Autorin setzt ein umfangreiches Allgemein- und Spezialwissen voraus. Ich musste oft Nebenrecherchen starten, um aus hingeworfenen Informationen in Nebensätzen schlau zu werden oder den größeren Kontext bzw. ihre Anspielungen zu verstehen.

»Toxische Maskulinität ist nicht Ausdruck anderer Probleme, sondern der sichtbarste Auswuchs des in die Krise geratenen Patriarchats, das sich mit Zähnen und Klauen gegen seine Absetzung und eine gerechtere Gesellschaft wehrt.« 


Insbesondere der historische Überblick zu Anfang und die Vorstellung vieler Frauen und ihrer Lebensläufe gefiel mir - ich habe ja schon viel zu Feminismus gelesen und dachte zunächst, hier wenig dazulernen zu können; Agnes Imhof nennt aber auch weniger bekannte Frauen und gerade für Menschen, die sich noch nicht so viel mit den Theorien, Entwicklungen und Ereignissen rund um Feminismus und Gleichberechtigungskämpfe beschäftigt haben, ist dieses Buch ein umfangreicher Einblick und Einstieg. Aber es ist eben auch anspruchsvoll - weniger auf Grund der Sprache, als auf Grund der inhaltlichen Dichte. Das Kapitel zu Poststrukturalismus etwa war ausgesprochen schwierig zu verstehen - bereits im Politikstudium hatte ich bei Foucault, Derrida und Butler viele Fragezeichen im Kopf und das änderte dieser Abschnitt auch nicht. Á propos Judith Butler - Agnes Imhof scheint hier eine merkwürdige persönliche Fehde zu führen; immer wieder kommt sie auf Butlers Texte zurück und zerreißt diese förmlich. Ja, sie sind unnötig kompliziert geschrieben und auch ich halte die feministischen Kämpfe für Handfestes für wichtiger als philosophische Auseinandersetzungen - aber letztere deshalb nicht für vollständig irrelevant oder schädlich. Zumal Imhof gleichzeitig eine eigentümliche Begeisterung für Alice Schwarzer an den Tag legt. Auch hier wieder: Kein Schwarzweiß-Denken; Schwarzer hat wichtige Pionierarbeit geleistet, (so) unkritisch sehe ich sie trotzdem nicht.

Zu Themen wie Prostitution und Leihmutterschaft positioniert sich Imhof, was ich begrüßenswert und wichtig finde - der Objektivitätsanspruch, der in der Wissenschaft gerne postuliert wird, ist irreführend und unerfüllbar. So konnte ich ihre Argumentation jedoch einordnen und mir meine eigenen Gedanken machen, ohne ein "so isses" vorgesetzt zu bekommen. Ich stimme ihr hier in ihrer Absolutheit nicht zu und bei den Themen Transidentität und binäres Geschlechtssystem hatte ich unangenehme Momente ob ihrer Formulierungen - möchte Imhof hier aber auch keine Worte in den Mund legen, die sie so nicht ausgesprochen hat. So wie sie Intersektionalismus jedoch darstellt (und kritisiert), sehe und lebe ich diesen jedoch nicht - für mich bedeutet das Konzept, anzuerkennen, dass es verschiedene, überlappende Formen der Diskriminierung gibt. Ohne dabei eine Hierarchisierung vorzunehmen. Mich gegen Diskriminierung aller Arten zu stellen - unabhängig, ob ich davon betroffen bin und gleichzeitig anzuerkennen, dass ich aus meiner privilegierten Position nicht für alle sprechen kann und darf.

Ähnlich ging es mir bei den Abschnitten zu kulturspezifischen Ansätzen des Feminismus - ich stimme mit Imhof vollkommen überein, dass Menschenrechte nicht verhandelbar oder abstufbar sind. Und glaube zugleich, dass es sehr wohl Schwarzen Feminismus und kulturspezifische Unterschiede bei Werten und Normen gibt; wir unsere westlichen Schwerpunkte so nicht exportieren können. Gerade weil Gesellschaften in verschiedenen Weltregionen unterschiedlich aufgebaut sind.

»Vielleicht sollte man einmal andersherum denken. Männer haben uns nun mehrere Jahrhunderte lang erzählt, die Freiheit der Frauen werde sich von selbst einstellen, wenn erst ihre Ziele verwirklicht seien. Die Frauen sollten einfach für die Ziele der Männer kämpfen, dann würden auch sie ihre Freiheit bekommen. Das hat bisher nicht geklappt. Und deshalb sind jetzt wir an der Reihe. Vielleicht zeigt sich ja am Umgang mit dem vermeintlich schwachen, sicher aber diskriminierten Geschlecht, wie ernst es jemand wirklich mit Freiheit und Gleichheit ist. Vielleicht sind Freiheit und Gleichberechtigung im Verhältnis von Mann und Frau die Voraussetzung für jede andere Art von Freiheit.«


Stark fand ich dann wieder das Kapitel zu Sexualität und dem Madonna-Hure-Komplex sowie Widmung und Schlussworte - aus denen die Wut, die Leidenschaft und der Unwille, Ungerechtigkeiten weiter hinzunehmen, nur so sprühen. Denn der zentralen Botschaft dieses Buches schließe ich mich laut und bestimmt an - es wird Zeit, "die Frauenfrage" nicht mehr unterzuordnen, Gleichberechtigung als zentralen Marker von freien Gesellschaften zu betrachten und nicht darauf zu warten oder hoffen, dass in einer besseren zukünftigen Welt automatisch dann auch patriarchale Strukturen verschwinden. Wir müssen andersherum anfangen und zuerst das Patriarchat abschaffen. Genau darin sind dieses Sachbuch und seine Autorin unmissverständlich, empowernd und überzeugend.


... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[3/5] Gerade weil Agnes Imhof auf die Farben des feministischen Kampfes und Widerstands eingeht, hätte ich mir ja eine Gestaltung nicht nur in violett sondern auch weiß und grün gewünscht; zumal letztere Farbe auch ihr Kapitel zu Lateinamerika aufgegriffen hätte. Aber hey, immerhin mal ein feministisches Buch nicht in pink! Sonst wenig spektakulär und der Titel sachbuchtypisch sperrig aber treffsicher.


VIELEN DANK AN DUMONT FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR

Ihr seht - Zwiespalt. "Ja!! Aber..." charakterisiert meine Beziehung zu diesem Buch während und auch nach dem Lesen am besten; es bietet ausgesprochen viel Wissen und Diskussionsstoff zugleich.

komplex ~ streitbar ~ kraftvoll

Markiert und annotiert ihr in Büchern? Oder großes No-go für euch? Ich hätte da ja früher die Krise bekommen; gerade bei Sachbüchern habe ich da jedoch mittlerweile große Freude dran.


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4 Kommentare:

  1. Liebe Ronja,
    in Sachbücher schreibe ich auch rein oder markiere mir Sätze - in alle anderen Bücher aber nicht. Ich sehe ab und zu Fotos von Leuten, die in ihre Bücher reinmalen und richtige Kunstwerke zwischen die Geschichte malen. Das finde ich auch toll, könnte mich dazu aber nicht überwinden - glaube ich. 😄
    Liebe Grüße
    Marie

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    1. Ahoi Marie,

      oh jaaaa, das finde ich auch beeindruckend - mir fehlt ja vor allem das Talent für solche Kunstwerke, haha. Es bleibt also bei Markierungen und Randnotizen xD

      LG Ronja

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  2. Oh, wow!

    Ich hab das Buch bisher gar nicht so auf dem Schirm gehabt und dachte: das muss ich mir unbedingt merken. Aber ich habe festgestellt, dass ich es wohl eher nicht mögen würde.
    Ich finde hier eher deine Kommentare, Anmerkungen sowie Erweiterungen viel schöner, die du deiner Rezension und dem Buch beigefügt und so das Spektrum des Feminismus erweitert hast.
    Finde es nämlich doch schon schwierig, wenn sich feministische Bücher nur auf "weißen Feminismus" beziehen, weil es, wie du gut sagst, durchaus nochmal Unterschiede gibt und auch wenn man genannte "Vorreiter*innen" des Feminismus nur lobpreist, wenn da einfach viel zu viel Merkwürdiges in den letzten Jahren gesagt wurde.

    Und geht mir ähnlich: Bei Belletristik schreibe oder markiere ich bisher nicht (rein), bei Sachbüchern brauch ich das mittlerweile sogar.
    Ich versuch aber schon zu "erspüren", ob ich das Buch mögen werde, weil ich ungern Bücher weiterverkaufen/abgeben/ verschenken möchte, die vollgekritzelt sind und die Leute dann nicht mehr haben möchten. :D


    Liebe Grüße
    Karin

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    1. Ahoi liebe Karin und danke für deinen Besuch :)
      Ich war bei dem Buch echt so vorfreudig und anfangs ja auch begeistert; freut mich sehr, dass dir meine Anmerkungen und Ausführungen gefallen. Ich wollte das Buch halt auf keinen Fall "zerreißen", aber eben auch meine Probleme damit (und den Aussagen der Autorin) schildern.

      Und jaaaaa, genau das! Wenn ich das Gefühl hab, dass das Buch mir gefallen wird/bleiben darf - gerne Markierungen! So lange ich mir unsicher bin, schreib ich mir erstmal nur die betreffenden Seitenzahlen auf xD

      LG Ronja

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