Die Kunst, unter Wasser zu leben || Olli Jalonen || mare Verlag || Roman || HC || 528 Seiten || 2/2
London, 1688: Der von St. Helena stammende Angus steht in den Diensten des Universalgelehrten Edmond Halley. Dessen aktuelles Interesse gilt dem Leben unter Wasser, und Angus ist der Erste, der mit einer Tauchglocke in der Themse tauchen darf. Angus genießt nicht nur als Forschungsgehilfe Halleys Vertrauen, sondern fühlt sich sogar als Teil der Familie Halley, wenn auch nur fast. Wegen seiner einfachen Herkunft ist ihm der Schulbesuch verwehrt, und er fragt sich zunehmend, wie er sich von Halley emanzipieren kann – und wie es seiner Familie auf St. Helena geht. Seine Zuneigung zum Dienstmädchen Henrietta mündet in einen tragischen Vorfall, und Halley scheint ihn immer wieder zu vertrösten, wenn es um seine Zukunftsaussichten geht. Doch dann erhält Angus bei einer großen Schiffsexpedition zur Bestimmung der Längengrade die Chance, endlich aus dem Schatten seines Meisters zu treten.
Fast zwei Jahre ist es nun schon her, dass ich Angus kennengelernt und mit ihm St. Helena verlassen habe - mit einer Rückkehr zu ihm, Edmond Halley und der südatlantischen Insel hatte ich nicht gerechnet. Obwohl damals von der Geschichte enttäuscht, machte mich der Klappentext dieser Fortsetzung doch wieder neugierig...
Gleich vorweg kann ich sagen: Ich bin dieses Mal viel besser mit Angus und Jalonen klargekommen - vielleicht weil ersterer älterer und reifer geworden ist und ich auf den Erzählstil des Letzteren vorbereitet war. Ich erwartete keinen Abenteuerroman, wodurch die kleinen und großen Ereignisse nicht vom Hoffen auf Spektakuläres überschattet wurden.
Olli Jalonens Schreibstil und Angus´ Gedankengänge sind verworren und nicht gradlinig, bildlich und von (unterschwelliger) Enttäuschung geprägt; auf einem schmalen Grad zwischen enthusiastischer Neugier und ernüchtertem Pragmatismus. Da waren Hoffnung und aufregendes Lernen, Staunen, Erleben - aber auch immer wieder Rückschläge, Auf-der-Stelle-treten, fast schon melancholische Perspektivlosigkeit und Leere. Angus ist Kind seiner Zeit und sich seiner gesellschaftlichen Position bewusst, hat von klein auf gelernt, nicht zu hinterfragen - und ist zugleich ein wacher Geist, der doch immer wieder (ver)zweifelt. Mir gefielen diese zarten Zwischentöne, das Hadern zwischen Können, Wollen und Dürfen; die Erkenntnis, dass der Status quo nicht gerecht ist und zugleich der fehlende Handelsspielraum, daran etwas zu ändern.
»Denn wenn man lesen kann, ist alles von vorneherein einfacher und auf
kleinerem Raum. Man muss nicht ein- mal weit reisen, um etwas Besonderes und
Neues zu sehen, weil man es durch das, was man liest, wissen kann, und Wissen
ist sehen, so wie das Sehen auch Wissen ist, aber dasselbe sind sie dennoch
nicht.«
Angus wie gesagt, reift mit den Jahren und Erfahrungen, behält jedoch einen Teil seiner Naivität und Schlichtheit bei. Gerade am Ende der Geschichte bin ich mir nicht sicher, wie ich zu seinen Entscheidungen stehe; ob ich traurig und enttäuscht oder auf eine ruhige Art zufrieden bin. Wie auch schon bei Die Himmelskugel hätte ich mir eine Kontextualisierung seitens des Autors gewünscht, ein (historisches) Nachwort.
Beide Bücher sind für mich keine klassischen Wohlfühlromane - aber auch keine nüchternen Wissenschaftsgeschichten oder aufregenden Abenteuererzählungen, sondern irgendetwas dazwischen. In diesem zweiten Band stand Halleys Arbeit mehr im Fokus; von Taucherglockenexperimenten, Berechnungen des Alters der Erde, Gedanken zum kommenden Venustransit 1761, aber auch alltäglichen Broterwerb und Ämtersuche ist alles dabei. Und auch die Seefahrt ist dieses Mal mehr als nur Ortswechsel; was mir beides ausgesprochen gefiel.
Und auch mit Angus selbst konnte ich dieses Mal mehr mitfiebern, wollte wissen, ob und wie es mit ihm weitergeht - seine Erlebnisse auf See und mit Herrn Halley interessierten mich zwar weiterhin mehr als seine alltäglichen Pflichten und Sorgen; letztere waren jedoch nicht mehr lästige Überbrückung für mich, sondern halfen mir, Angus besser kennen- und verstehen zu lernen.
»Man denkt über alles nach, wenn man Zeit dafür hat, auch wenn man mit
niemandem darüber reden kann, weil es keinen so getreuen Freund mehr gibt, der
nicht lacht und es hintenherum anderen erzählen und dann mit denen lachen
würde.«
Kurzum, auf diese Geschichte muss man sich einlassen können und wollen - wer einen schnellen Ritt durch Halleys vielschichtiges und erlebnisreiches Leben erwartet, ist hier falsch. Angus´ Lebensweg ist voller Irrungen und Windungen; mit Halley verknüpft und doch auch eigen. Zwei Bücher, die von leisen Zwischentönen, ausschweifenden Gedanken und nachdenklicher Trägheit leben; ein Bild der Anfänge des Wissenschaftszeitalters zeichnen, das zugleich von verharrendem Zögern und kühnem Wagemut spricht.
... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[4/5] Meine erste Reaktion auf das Cover war Ablehnung und Erschrockenheit; je länger ich es jedoch betrachte, desto passender und interessanter finde ich es jedoch. Und der Farbton ist in echt viel schöner als im Netz - statt bräunlich ein einladender Mandarinton. Der Titel ist zwar sperriger als der originale finnische, ist jedoch eine direkte Referenz auf eine Szene und Vorklang auf den Schreibstil Jalonens.
VIELEN DANK AN MARE FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR
Eine leise Geschichte, zwischen Neugier und Schwermut - nicht im direkten Sinne ein Buch über Halley Leben und Wirken sondern eher ein Roman mit Wissenschaft und Entdeckungen.
nachdenklich ~ leise ~ ausschweifend
Was sind Themen und Schlagworte, bei denen ihr (Büchern) nicht widerstehen könnt? Bei mir mittlerweile alles rund um Navigation und Längengradbestimmung, Astronomie und - na klar - Seefahrt :D
An alle, die beide Bücher gelesen haben: Wie würdet ihr die Reihe nennen, wenn ihr den Reihennamen vergeben dürftet? Ich plädiere ja für Totholz-Saga 😎
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