Flüchtige Umarmung || Daniel Mendelsohn || Siedler Verlag || Roman || HC || 256 Seiten || 1/1
Aufgewachsen als Sohn eines Mathematikers in einem Vorort auf Long Island, treibt es Daniel Mendelsohn weg von zu Hause, um herauszufinden, wer er ist: Er stürzt sich in sein Studium der Altphilologie und erkennt sich in den Texten der griechischen Klassiker wieder; um seine Wurzeln zu ergründen, erforscht er die Geschichte seiner Familie, osteuropäischer Juden; in New York City wird er Teil der Schwulenszene; die Sehnsucht nach einer eigenen Familie erfüllt sich wider alle Erwartungen.
Mittlerweile schon drei Jahre ist es her, dass Daniel Mendelsohn mich auf eine Odyssee mitnahm und mit seinem Schreib-, seinem Erzählstil beeindruckte. Als ich zufällig über die auf deutsch neuerscheinende Übersetzung seines Debüts stolperte, konnte ich nicht widerstehen!
Ich war bereit, zu lieben. Bereit, dieses Buch von der ersten Seite an zu lieben und mich in die Erzählung fallen zu lassen. Während Mendelsohn erzählerisch durch seine Vergangenheit und die noch länger vergangene Antikenwelt mäandert, fehlte mir als Leserin ein roter Faden, ein Anknüpfungspunkt. Ich genoss das Dahinplätschern der episodenhaften Ausschnitte und Fragmente eines Lebens, fand aber keinen Bezug. Ich bin kein schwuler Mann, ich habe keine Verbindung zu New York, und die 70er, 80er, 90er nicht erlebt - ich blieb unbeteiligte Betrachterin. Dieser "ah, darum lese ich dieses Buch"-Moment wollte bei mir nicht aufkommen.
»Wie weiß
man, wer man ist? Man ist derjenige, der liebt, indem man Gleichheit über Verschiedenheit
legt. Das ist die Etymologie des Begehrens.«
Zugleich - auch wenn ich passive Leserin blieb - bereitete mir die Lektüre dennoch Freude, ein behagliches Lesegefühl angesichts ausdrucksstarker Sprache, intelligentem Satzbau und beeindruckender erzählerischer Kunst. Mendelsohn versteht es, weite Bögen zu spannen und doch wieder zur Ursprungserzählung zurückzukommen. Das erfordert wachen Geist beim Lesen, hält aber auch die grauen Zellen wach.
Die Liebe zur Antike schlägt auch in diesem Buch erneut durch; immer wieder entführt der Autor in griechische Sagenwelt und römische Dichtung und zeigt: Menschliche Empfindungen aller Art verbinden über Zeiten und Landesgrenzen hinweg.
»Die Griechen, die ihre Mythen offenbar gleichermaßen der vollkommenen
Schönheit und der schrecklichen körperlichen Zweiteilung gewidmet hatten,
wussten, dass Identität nicht die Antwort ist – der optimistische,
amerikanische Trugschluss – , sondern das Rätsel selbst.«
Dieses Buch besteht aus einer losen Verknüpfung einzelner Erlebnisse aus der queeren Welt und stellt zugleich genau das dar: Eine Perspektive, ein Einblick, eine Facette. Wer genau daran interessiert ist, sich darauf einlassen kann, in ein Leben einzutauchen - dem kann ich dieses wunderbar geschriebene Buch nur ans Herz legen. Tod, Liebe, Identität (und die Suche danach), Schönheit, Sehnsucht, Verlangen, Vaterschaft und Kindheit - viele Themen behandelt und streift das Buch (gegliedert in die Kapitel Geographien, Vielzahlen, Vaterschaften, Mythologien und Identitäten); ich hätte mir hier einen klareren Pfad, ja mehr Resümee, gewünscht.
... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[4/5] Die Covergestaltung mag im bunten Buchladen nicht direkt ins Auge springen, ist in seinem Antikenbezug und der statischen Dynamik jedoch äußerst passend zu Inhalt und Titel, den ich ansprechend finde.
VIELEN DANK AN RANDOMHOUSE FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR
Eine Verflechtung aus antiken Geschichten und persönlichen Reflektionen, sprachgewaltig und voller Abschweifungen. Schwierig zu lesen und zugleich genau deswegen auch ein Genuss. Ich wollte dieses Buch lieben und zögere dennoch. Es hat mich nicht kaltgelassen und zugleich auch nicht endgültig mitreißen können. Vielleicht muss dieses Buch auch so uneben sein; ein Fragment, viele letztlich.
ausdrucksstark ~ distanziert ~ anspruchsvoll
Kennt ihr das? Dieses "hmm, was fange ich jetzt damit an; wie fand ich das?" Gefühl nach dem Lesen? Bei welchem/welchen Bücher(n) erging euch das zuletzt so?
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