Das Totenschiff || B. Traven || Diogenes Verlag || Roman || HC || 416 Seiten || 1/1
Der amerikanische Seemann Gales verpasst in den Kneipen Antwerpens sein Schiff, auf dem sich sein einziges Identitätsdokument befindet, wird als Staatenloser über europäische Landesgrenzen abgeschoben und heuert schließlich in Barcelona auf dem Schiff Yorikke mit illegaler Ladung und Besatzung und höllischen Arbeitsbedingungen an. Und es kommt noch schlimmer.
Schon länger hatte ich Das Totenschiff auf dem Schirm - mit der Neuauflage aus dem Dezember dann auch keinen Grund mehr, nicht endlich zu diesem Klassiker zu greifen.
Und hätte ich das mal schon früher getan! Was ein Buch.
Nach den ersten paar Seiten habe ich mir irritiert Notizen zur Übersetzung gemacht - nur um dann mal ordentlich zu recherchieren und herauszufinden, dass B. Traven mitnichten Amerikaner war, sondern vermutlich der uneheliche Sohn des AEG-Gründers Rathenau (und damit Halbbruder von Walther Rathenau) und dieses Buch genauso auf deutsch schrieb. Das ließ mich die kuriose Mischung aus Seefahrtsenglisch, amerikanischen Slang und deutschem Hafenschnack dann schon anders lesen; erlaubte mir im wahrsten Sinne des Wortes das Eintauchen in die Welt und Zeit unseres Protagonisten und Seemanns.
»Aber die Dinge im Leben spielen sich nicht so einfach ab. Sie nehmen
nur selten Rücksicht auf das, was man leiden mag und was nicht. Es sind nicht
die Felsen, die den Lauf und den Charakter der Welt bestimmen, sondern die
kleinen Steinchen und Körnchen.«
Gleich vorweg: Das Totenschiff mag wie ein Abenteuerroman wirken und zu gewissen Teilen könnte er auch als solcher betrachtet werden; vor allem aber ist das Buch schonungslos und politisch. Nichts mit Seefahrtsromantik - ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen beschreibt der amerikanische Seemann Gales das harte, entbehrungsreiche und ruhmlose Leben der einfachen Leute; das Leben am Rande und sogar außerhalb des Blickfelds der Gesellschaft. B. Traven bzw. der Mann hinter diesem Pseudonym war radikaler Anarchist - und das liest sich auch ohne Analyse heraus. Kein Kapitel ohne Kapitalismuskritik, Ablehnung von Nationalstaat und Bürokratie, kommunistischen Gedanken und scharfsinnigen Beobachtungen der allgegenwärtigen Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten.
»Die Romantik der Seegeschichten ist längst vorbei. Ich bin auch der Meinung, dass solche Romantik nie bestanden hat. Nicht auf Segelschiffen und nicht auf der See. Diese Romantik bestand lediglich in der Fantasie der Schreiber jener Seegeschichten.«
Gerade vor dem Hintergrund der Rätselraterei um die Identität des Autors ist die verlorengegangene bzw. verlorengehende Identität des Protagonisten spannend zu verfolgen; Autor und fiktive Figur verschwimmen in ihrer Gesellschaftskritik zu einer Person.
Das Buch lebt neben der revolutionären Ansichten vor allem von den realistischen Beschreibungen; fast schon eine Fallstudie in Romanformat. Der Schmutz, die harte körperliche Arbeit, die Müdigkeit - all das wird förmlich spürbar beim Lesen; der Lebensalltag an Bord detailliert beschrieben. Gleichzeitig ist der Protagonist so in seinem Slang und seinem Seemannsdenk gefangen, dass es mir - obwohl ich durch eigene Seefahrtszeit oft wusste, was er gerade beschreibt - stellenweise schwerfiel, zu folgen. Da wird umschrieben und in Wortbilder verpackt, statt klar auszudrücken, was genau passiert. Gerade das eigentliche Geschäft der Yorikke musste ich mir mehr zusammenreimen, als dass es auf den Punkt gebracht wird. Ich kann mir vorstellen, dass gerade die Bordalltagsszenen für Außenstehende nicht immer leicht nachzuvollziehen und vorzustellen sind.
»Moral wird einem ja nur darum gelehrt, damit die, die alles haben,
alles behalten können und das Übrige noch da- zukriegen. Moral ist die Butter
für die, denen das Brot fehlt.«
Für mich überwiegen ja ganz offensichtlich die glänzenden Seiten der Seefahrt, nichtsdestotrotz konnte ich mich hervorragend in dieses Buch hineinfühlen, fühlte mich in dieser Beschreibung des Seemannslebens aufgehoben und auch die Verwebung von Politischem und Alltäglichem sprach mich auf persönlicher Ebene an. Überhaupt; in vielerlei Hinsicht hat dieses Buch wohl förmlich auf mich gewartet und auch wenn es mich nicht in allen Punkten überzeugte, war es doch auf eine positive Weise emotional für mich. Randnotizen, Markierungen und Post-its zeugen davon. Ein Buch, das sich auch erneut zu lesen lohnt und viel mitgibt - Denkanstöße wie Lebensweisheiten und Beobachtungen.
Auch die an den Tag gelegte Sensibilität bezüglich der verwendeten Sprache, die sich in der editorischen Notiz ausdrückt, erfreute mich - der Stil und Ton des Buchs, dass zwischen den Weltkriegen geschrieben wurde, bleibt erhalten, diskriminierende Praxis wird aber nicht reproduziert. Manche Begriffe und Formulierungen bereiten auch ganz einfach Freude - wenn Gales durch die Straßen schnurkst, schnurrigen Gedanken nachhängt oder konstatiert, dass die Amerikaner "mit dem Evangelium der Zahnbürste und der Wissenschaft des täglichen Füßewaschens" ausgerüstet seien.
... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[4/5] Ich liebe das wunderbar handliche Format, die wertige Leinenbindung und die Haptik des Papiers - und auch die schlichte Covergestaltung empfinde ich als ansprechend
VIELEN DANK AN DIOGENES FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR
Ein keineswegs in die Jahre gekommener Klassiker, der das Verstauben verdient hat, sondern auch heute noch - gerade heute wieder - politisch aktuell und durchweg lesenswert.
unverblümt ~ sarkastisch ~ schockierend
Kennt ihr den Roman oder die Verfilmung mit Mario Adorf? Möchte ich mir demnächst auf jeden Fall noch ansehen.
Schönen guten Morgen!
AntwortenLöschenEine ganz tolle und interessante Buchempfehlung, die mich echt neugierig macht! Ob es für mich passend ist, weiß ich zwar noch nicht sicher, aber ich werds mir mal überlegen :)
Ich hab deine Rezension heute auch gerne in meiner Stöberrunde verlinkt!
Liebste Grüße, Aleshanee
Ahoi liebe Aleshanee,
Löschenach Dankeschön! Freut mich ja, dass dir meine Besprechung so gefällt und du sie verlinkt hast; komme ich gleich mal stöbern ^^
Falls du das Buch lesen solltest, bin ich natürlich auf deine Meinung gespannt :)
LG Ronja