Unentdeckt || Gabriela Wiener || übersetzt aus dem peruanischen Spanisch von Friederike von Criegern || kanon Verlag || Roman || HC || 192 Seiten || 1/1
Welche Spuren hinterlässt koloniale Gewalt?
Die heiligen Orte in den Anden beherbergten einst wertvolle Grabbeigaben. Heute findet man sie in den großen Sammlungen europäischer Museen. Dort wird Gabriela Wiener mit ihrem Erbe konfrontiert: Ausgerechnet ihr Ururgroßvater Charles Wiener, ein jüdisch-österreichischer Forscher, erbeutete im 19. Jahrhundert Tausende Artefakte. Als sie der väterlichen Linie ihres Stammbaums nachgeht, stößt sie auf patriarchale Heldenerzählungen: die Legende des bescheidenen Deutschlehrers, der über Nacht zu Indiana Jones wird, aber in Peru Frau und Kind zurücklässt. Und die Parallelbeziehung ihres Vaters, in der dieser mit Vorliebe eine Augenklappe trug. Werden Vorstellungen von Liebe und Lust weitergetragen? – Ausgehend von ihrem Nachnamen wird Gabriela Wiener nicht nur zur Chronistin von Kolonialverbrechen, sondern auch zur Erzählerin ihrer selbst.

Vor allem durch Babel angestoßen, beschäftige ich mich momentan mit dem Kolonialismus und seinen Folgen; als ich diese own voice Erzählung in der Verlagsvorschau entdeckte, wollte ich sie unbedingt lesen.
Und nachdem ich sie gelesen hatte, wusste ich zunächst lange nicht, was ich dazu sagen soll. Weiß es eigentlich bis jetzt nicht. Ich fand den Roman - ich weiß nicht mal, ob das das passende Genre ist; viel mehr sind es Erzählfragmente, mal sachbuchartig, mal autobiographisch, mal fast schon philosophisch - nicht schön. Ich habe ihn nicht verstanden. Ich glaube, nicht die richtige Zielgruppe zu sein oder zumindest zu wenig Hintergrund- und Kontextwissen zu haben. Und gleichzeitig gab es kraftvolle, aufwühlende Textpassagen und es ist so wichtig, dass weiße Menschen wie ich sich mit dem Kolonialismus und seinem Erbe beschäftigen. Dass People of Colour sich nicht immer erklären müssen, dass keine editorischen Notizen den Text überschreiben. Ich bin zwiegespalten; ihr merkts.
»Dies ist eine Lektion für jeden, der eine gewisse Neugier für Rassismus
in dieser Welt mitbringt, und auch nur den winzigsten Willen, diesen als
Weckruf für Regime zu begreifen: Wenn dir diese neue und auffällige
Feindseligkeit umgekehrt rassistisch vorkommt dann verdienst du es nicht, hier
zu sein und zu hören, was wir zu sagen haben.«
Ich sagte es schon, das Buch setzt sich aus einzelnen, kurzen Texten zusammen; lose chronologische Erlebnisse, aber auch Gedankenexkurse, Ausführungen zu Charles Wiener und dem Kolonialismus im Allgemeinen, der Familiengeschichte der Autorin und ihrem Sexualleben. Der Ton schwankt zwischen anklagend und (selbst-)zweifelnd; beides kann ich nachvollziehen und machte den Schreibstil zusammen mit fast schon vulgärerer Direktheit für mich jedoch unschön, unrund. Und gleichzeitig kann ich sehen, wie das gewollt und notwendig ist.
»Nah dran gewesen zu sein, um Haaresbreite, war nie eine gute
Entschuldigung. Von allen Facetten des Scheiterns ist diese besonders
ärgerlich.«
Neben den persönlichen Erzählungen wie gesagt auch historisches - und hier konnte ich dazulernen; über Charles Wiener im Speziellen wie Peru im Allgemeinen. Gerade die Erklärung des Originaltitel Huacos retratos fand ich interessant: Huacos bezeichnen prähistorische Keramik und huacos retratos dementsprechend Porträtkeramik; oder wie Gabriela Wiener sagt: prähispanische Passfotos. Im Spanischen entfaltet die ganze Wortspielerei um huacas (heilige Tempel), huacos und huaqueros (Plünderer archäologischer Stätten) sicher mehr Wirkung.
»Verstreute Materialien zusammenzutragen, um eine Karte zu erstellen, um
zu retten, was die Zeit noch nicht gefressen hat, um ein flüchtiges Bild der
Vergangenheit zu rekonstruieren, das ist Wissenschaft. Plündern dagegen ist
Öffnen, Eindringen, Rausreißen, Rauben, Fliehen, Vergessen.«
Abschließend kann ich
weder eine Empfehlung aussprechen noch vom Buch abraten - ähnlich wie damals mit
Flüchtige Umarmung gelang mir der Zugang nicht und gleichzeitig empfinde ich das Buch als
Bereicherung des Buchmarktes und glaube, dass es anderen Menschen deutlich besser gefallen könnte, als mir. Es sind ja auch nur wenige Seiten, zumal in sehr kurzen Abschnitten. Ich lese ja nicht sonderlich gerne Artikel der
Frankfurter Allgemeinen; über dieses Buch hat die FAZ jedoch eine überraschend lesenswerte und positive
Buchkritik geschrieben.
... noch ein paar Worte zu Gestaltung und Titel:
[3/5] Ich liebe die Farbgebung/ den Farbverlauf des Buches unter dem Schutzumschlag - und das dieser nicht das gesamte Buch umhüllt, ist ebenfalls aufmerksamkeitserregend. Den Titel finde ich schwach ob des Originals, bin mir aber dessen Unübersetzbarkeit bewusst.
VIELEN DANK AN STIFTUNG LITERATURTEST FÜR DAS REZENSIONSEXEMPLAR
Queer, postkolonial und machtkritisch, dabei zugleich verletzlich und berechtigt wütend - die (Literatur-)Welt braucht mehr solcher Bücher, mehr marginalisierte Stimmen, die sich erheben. Ich fand jedoch leider keinen Zugang zum Buch; gefühlt habe ich es nicht verstanden bzw. nicht erfassen können, was es mir sagen will.
queer ~ intim ~ fragmentarisch
Welches Buch hat euch zuletzt unschlüssig zurück gelassen oder euch das Gefühl vermittelt, es nicht verstanden zu haben? Mögt ihr Bücher lieber mit oder ohne Schutzumschlag?
Ähnliche Bücher in meiner Schatztruhe:
{mit einem Klick auf die Cover gelangt ihr zu den Rezensionen}
Hallo Ronja,
AntwortenLöschenda ich das Buch auch gerade lese, habe ich erstmal nur deine Anker-Bewertung und dein Fazit kurz davor gelesen. Schade, dass du keinen richtigen Zugang zum Buch gefunden hast. Ich habe bisher erst 45 Seiten gelesen und kann daher noch nicht urteilen. Auf jeden Fall ist es so, dass ich weiterlesen möchte, das ist schonmal gut.
Liebe Grüße,
Sandra
Ahoi Sandra,
Löschenna dann bin ich gespannt, wie es dir am Ende gefallen wird - berichte doch gerne 😊
Ein schönes Wochenende jetzt erstmal
Ronja